Wissenschaftliche Politikberatung in Krisenzeiten – Publikation des Schweizerischen Wissenschaftsrates 

Die Wissenschaft ist stärker in die Politikgestaltung einzubeziehen, vor allem in Krisen. Es ist jedoch nicht möglich, dass für jede denkbare Krise ein Referenzinstitut geschaffen wird. Sicher aber müssen sich Forschende im Hinblick auf Politikberatung vernetzen und die Anlaufstellen bei Politik und Verwaltung kennen. Zwischen den Behörden und den wissenschaftlichen Organisationen braucht es einen regelmässigen Austausch. Verbesserungspotenzial ortet der Schweizerische Wissenschaftsrat SWR zudem bei der Krisentauglichkeit von ausserparlamentarischen Kommissionen sowie den Regeln für wissenschaftliche Task Forces.

Kriege, Epidemien, Erderwärmung, Migrationsbewegungen, Verknappung von Gütern und Strommangellage. «Was wir heute beobachten, ist nicht eine Krise, sondern mehrere, die in komplexer Weise zusammenwirken. Die Rolle der Wissenschaft in der Politik muss deshalb auf vielfältige Art und Weise gestärkt werden», sagt Sabine Süsstrunk, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. In seiner neusten Publikation untersucht der Rat, wie wissenschaftliche Expertise und Beratung die Schweiz am effektivsten unterstützen können.

Ein vom SWR in Auftrag gegebener Expertenbericht analysiert die Fallbeispiele Finanzkrise, Fukushima-Unfall und Covid-19-Pandemie. Aufgrund der Vielfalt und der Unberechenbarkeit von Krisen kommen die Autorinnen und Autoren zum Schluss, dass es nicht einen Beratungsmechanismus gibt, der für alle Krisentypen geeignet ist. Vielmehr müssen verschiedene Instrumente verbessert oder weiterentwickelt werden.

Die Empfehlungen des SWR an den Bundesrat sollen dazu dienen, dass wissenschaftliche Expertise systematischer in der Prävention, Vorbereitung und Bewältigung von Krisen zu Nutzen kommen. Zentrales Anliegen dieser Empfehlungen ist, dass Politik- und Wissenschaftswelt mehr voneinander wissen, sich besser verstehen und damit ihre unterschiedlichen Rollen stärken.

Die Empfehlungen des SWR im Überblick:

Agenda Setting
Die Wissenschaft muss die Möglichkeiten haben, neue und weniger bekannte Risiken auf die politische Agenda zu bringen – auf Anfrage und aus eigener Initiative. Dazu sollen die Anlaufstellen auf allen Ebenen von Politik und Verwaltung ausgebaut und in der Wissenschaftscommunity bekannt gemacht werden.

Die Wissenschaftsorganisationen einbeziehen
Politikerinnen und Politiker sollen regelmässig mit den Präsidien von swissuniversities, ETH-Rat, Akademien, dem Schweizerischen Nationalfonds, Innosuisse und SWR zusammenkommen, um Bedrohungen und Herausforderungen zu diskutieren. Hochschulen sollen ermutigt werden, Politikberatung als Teil ihres Auftrags zugunsten der Gesellschaft zu verstehen. Die Akademien sollen die Expertinnen und Experten der Politikberatung koordinieren und vernetzen.

Wissenschaft und Krisenmanagement verbinden
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen Zugang zu den Kenntnissen und Fähigkeiten haben, die für eine effiziente Politikberatung erforderlich sind. Dazu braucht es gemeinsame Übungen sowie weitere Formen der Vernetzung mit Fachleuten des Krisenmanagements in der Bundesverwaltung.

Ressortforschung konsequenter nutzen
Die Ressortforschung kann in der Bereitschaftsplanung von Krisen eine wichtige Rolle einnehmen; sie soll genutzt werden, um in kurzer Zeit Wissen über Bedrohungen und Risiken zu generieren. Zudem ist sie systematisch in den Prozess der Politikgestaltung einzubeziehen. Die Ressortforschung kann auch dazu beitragen, Brücken zwischen Wissenschaft und Politik zu schlagen.

Ausserparlamentarische Kommissionen krisentauglich machen
Diejenigen ausserparlamentarischen Kommissionen, die sich unter anderem mit Krisenbereitschaft und -bewältigung beschäftigen, sind zu benennen und ihre geeignete fachliche Zusammensetzung ist zu garantieren. Sie sollen sich auf spezifische Krisen ausrichten können, indem sie eine adäquate Rechtsgrundlage und verstärkte Unterstützung erhalten. Im Krisenfall sollen sie auch aus eigener Initiative beratend aktiv werden können

Regeln für wissenschaftliche Task Forces festlegen
Für komplexe Situationen mit besonderem Beratungsbedarf soll eine wissenschaftliche Task Force die Behörden unterstützen. Die Expertinnen und Experten sollen in Zusammenarbeit mit den Wissenschaftsorganisationen aus einem übergreifenden Netzwerk in einem transparenten Verfahren rekrutiert werden. Die Task Force muss thematisch angemessenen breit aufgestellt sein; je nach Entwicklung einer Krise ist die fachliche Zusammensetzung anzupassen. Die Regeln der Mitarbeit und Kommunikation sind im Vorfeld zu klären.


Bericht (PDF, 3.9 MB): in Deutsch und Französisch
Flyer (PDF, 1.7 MB): in Deutsch und Französisch


Akzeptanz von Krisenmassnahmen durch die Bevölkerung – Publikation des Schweizerischen Wissenschaftsrates

Die Covid-19-Pandemie hat die Gesundheitssysteme, die Wirtschaft und fast alle Lebensbereiche unter grossen Druck gesetzt. Daher hat der Schweizerische Wissenschaftsrat SWR analysiert, wie sich die Schweiz für künftige Krisen unterschiedlichster Art rüsten kann. Dazu hat er das Fachwissen von Forschenden wie auch von Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft, der Politik und der Verwaltung eingeholt. Seine Empfehlungen betreffen die Gesellschaft, die Politik sowie die Wissenschaft und konzentrieren sich auf den Aspekt der Akzeptanz.

«Die Akzeptanz der Präventions- und Krisenbewältigungsmassnahmen ist eine Voraussetzung für jede Verhaltensänderung durch die Bevölkerung», so Sabine Süsstrunk, Präsidentin des SWR. In der Schweiz tragen die direkte Demokratie und der Föderalismus zur Unterstützung der Massnahmen bei. Dauert eine Krise an, nimmt die Akzeptanz ab. Dann müssen die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger Wege finden, um den Zusammenhalt in der Bevölkerung zu stärken. Sie müssen dazu die Partizipation neu erschliessen, ohne die politische Handlung zu beeinträchtigen.

In Zeiten grosser Unsicherheit engagieren sich zahlreiche Forschende und stellen Entscheidungshilfen bereit. Ihr Beitrag ist unerlässlich, um die verfügbaren Daten und wissenschaftlichen Resultate zu interpretieren. Die Expertinnen und Experten müssen jedoch zunächst ihre Rolle in der Politik und in der Gesellschaft klären − sowohl für sich selbst als auch gegenüber anderen.

Auf der Grundlage seiner Analyse identifiziert der SWR Handlungsfelder und formuliert folgende Empfehlungen für Gesellschaft, Politik und Wissenschaft:

Erwartungen aufeinander abstimmen
Damit die Bevölkerung schwierige Massnahmen mitträgt, muss sie in der Lage sein, Risiken zu bewerten, ohne sie zu überschätzen oder deren langfristigen Auswirkungen zu unterschätzen. Zudem ist es wichtig, die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft und Politik richtig einzuordnen.

Gesellschaftsrelevante Daten teilen
Die Entscheide der Behörden müssen sich auf verschiedenartige und rasch verfügbare Daten abstützen. Die Sozialwissenschaften sollen dazu beitragen, die aussagekräftigen Indikatoren zusammenzustellen. Überdies muss der Aufbau des nationalen Datenmanagements beschleunigt und eine engere Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen gefördert werden. Ab Beginn einer Krise müssen die kantonalen Massnahmen wissenschaftlich begleitet werden.

Dialogplattformen einrichten
Um den Zusammenhalt und die Akzeptanz in der Bevölkerung sicherzustellen, sind vielfältige ‒ sowohl virtuelle als auch analoge ‒ Formate des Austauschs zu entwickeln. Dabei sollen eine respektvolle Diskussionskultur gefördert werden und auch widersprüchliche Stimmen Platz haben.

Migrationsgemeinschaften einbinden
Die Behörden müssen sich über die Schule, Unternehmen und Fachstellen explizit an die Migrationsbevölkerung wenden. Dies bedeutet auch, ausländische Gemeinschaften anzuhören und aus ihren Erfahrungen bei der Bewältigung von Krisen zu lernen. Die Schweiz nutzt dieses Potenzial noch nicht genügend.

Verantwortung übernehmen
Offenheit und Transparenz bilden die Grundlagen von Leadership, auch in Zeiten hoher Belastung. Politische Entscheidungsträgerinnen und träger müssen proaktiv über die interne Organisation des Krisenmanagements informieren. Am Ende einer Krise sollen unabhängige Evaluationen in Auftrag gegeben werden.

Expertise mobilisieren
Die Hochschulen müssen Expertinnen und Experten identifizieren und ihnen die nötige Unterstützung bieten, wenn sie beispielsweise in einen Ausschuss berufen werden oder den Medien Auskunft geben sollen. Ausserdem müssen die Hochschulen die Wissenschaftskommunikation als Disziplin weiterentwickeln.

Kommunizieren und zuhören
Die Forschenden müssen sich in guten Kommunikationspraktiken schulen und mit den Abläufen des politischen Systems der Schweiz vertraut machen. Die wissenschaftlichen Organisationen sollen sich an alle Bevölkerungsgruppen wenden, besonders an jene, die die wissenschaftliche Aktualität nicht eng verfolgen.

Social Media untersuchen
Da der Informationsfluss das Vertrauen in der Bevölkerung mitprägt, soll der Bund ein nationales Forschungsprogramm lancieren, das sich mit der Bedeutung der herkömmlichen und sozialen Medien für die Schweizer Demokratie befasst.

Brücken schlagen zwischen Wissenschaft und Politik
Das Grundverständnis zwischen Wissenschaft und Politik soll nicht nur in Krisenzeiten gefördert werden. Ein regelmässiger Austausch hilft, um die jeweiligen Akteure, Mechanismen, Praktiken und Probleme besser kennenzulernen.


Bericht (PDF, 5.1 MB): Bericht in Deutsch
Flyer (PDF, 2 MB): in Deutsch und Französisch


Workshop: Lehren aus Covid-19 (11/31. August 2021)
In der Schweiz wurde die Covid-19-Pandemie als schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Das Gesundheitssystem, die Wirtschaft und nahezu jeder Aspekt des gesellschaftlichen Lebens wurden durch ein Virus infrage gestellt. Aus Ausbrüchen wie SARS (2003), H1N1 (2009), MERS (2012), Ebola (2014) oder Zika (2016) schlossen viele europäische Nationen, Infektionskrankheiten seien ein Problem für andere, weit entfernte Länder, insbesondere dank Fortschritten in der Intensivmedizin und der öffentlichen Gesundheit. Die Fahrlässigkeit war ein Fehler; aber ebenso problematisch wäre eine Überkorrektur, die die Schweiz blind machen könnte für andere Probleme.


Der Schweizerische Wissenschaftsrat SWR ist das unabhängige Beratungsorgan des Bundes für Wissenschaft, Bildung, Forschung und Innovation. In seinem Arbeitsprogramm 2020 – 2023 hat er sich die Frage gestellt, welche Wissenschaftspolitik nötig ist, damit die Schweiz Unerwartetes bewältigen kann. Um die Breite und die Tiefe des Themas besser zu verstehen, ersuchte der SWR in einem dreiteiligen Workshop Fachleute und Stakeholder um ihre Erkenntnisse.


Die Diskussionen konzentrierten sich auf die folgenden Punkte:

  • Akzeptanz der von den Behörden beschlossenen Massnahmen zur Krisenprävention und -eindämmung;
  • Governance und Führungskultur sowie – speziell im Schweizer Kontext – Föderalismus;
  • Kommunikation zwischen Behörden, Zivilgesellschaft und Wissenschaft.

 

Der Austausch gliederte sich in drei Etappen:

  1. Lehren aus Covid-19 (11. August 2021, Vormittag)
  2. Langfristige Lehren (11. August 2021, Nachmittag)
  3. Lehren der Stakeholder (31. August 2021, Vormittag)

 

Eindrücke und Statements
11. August

Andreas Wenger: “We as scientists can update our models every day – for us, it’s all about learning. But if the government has to change its estimation, it has to pay a price.”
Daniel Kübler: “Nothing worse than people just believing scientists telling them that there is no alternative to a certain measure. Public decisions should be only made after debate”.
Eva Maria Belser: “Each day of the crisis is a new crisis. Trust must be earned every day again.”
Marc Höglinger: “Right now, we are in a very dynamic situation and we should not put people into boxes. People that have not been vaccinated so far may still change their mind.”
Marie-Valentine Florin: “As the Covid-19 pandemic continues, we might need a shift from crisis management to risk management.”
Nicolas Levrat: “We should make a difference between the corona pandemic and the corona crisis. Those are different issues and they require different solutions.”
Oliver Nachtwey: “This pandemic is not only biological, but also social. It’s now time for a more integrated approach in science where different disciplines are working together.”
Pascal Wagner-Egger: “More researchers should be active on Social Media, in order to not cede the field to conspiracy theorists.”
Sarah Geber: “As scientists, we should improve our understanding on how to communicate uncertainties regarding scientific knowledge. And the population should be trained on how to cope with those uncertainties.”
Thomas Stocker: “Liability is key, both for the Covid-19 pandemic and the climate crisis.”

 

31. August