Von Gutenberg zu Generative AI: Research Libraries as Data Hubs

08. Dezember 2025
von Susanna Burghartz (SWR)
#deutsch #Forschungspolitik #Wissenschaftspolitik #Bildungspolitik

Forschungsbibliotheken sind längst nicht mehr nur Aufbewahrungsorte von Büchern. Als Daten-Hubs sind sie zentrale Infrastrukturen für die Forschung und unverzichtbar für den Erhalt der digitalen Souveränität des Landes. Der Schweizerische Wissenschaftsrat SWR legt einen Bericht mit Empfehlungen vor, die weit über den Bibliothekssektor hinausweisen.

Für wissenschaftliche Forschung ist der langfristig zuverlässig funktionierende Zugang zu verlässlichen und überprüfbaren Informationen absolut unverzichtbar. Seit Jahrhunderten sind die wissenschaftlichen Bibliotheken der Hochschulen, die sogenannten "Forschungsbibliotheken", für diese Aufgabe zuständig. Sie sind in der Schweiz frei zugänglich. Die umfassende Digitalisierung, neue digitale Geschäftsmodelle der grossen internationalen Verlage und nicht zuletzt die Open Access-Bewegung haben die Bibliotheken seit längerem vor grosse Herausforderungen gestellt. Globale Suchmaschinen und Informationsplattfomen wie Google aber auch die sich rasant entwickelnden und ausdifferenzierenden Anwendungsformen von künstlicher Intelligenz verändern die Arbeits- und Geschäftsbedingungen der Bibliotheken grundlegend. Ebenso rasch ändert sich das Verhalten ihrer NutzerInnen. Anhaltende Konzentrationsprozesse im Bereich von BigTech und die jüngsten technologischen, rechtlichen und geopolitischen Entwicklungen zur Kontrolle von Informations- und Datenflüssen betreffen die Forschungsbibliotheken, die Produktion von Wissen und dessen verlässliche Zurverfügungstellung wie nie zuvor.

Im Gespräch mit SWR-Ratsmitglied Susanna Burghartz, emeritierte Geschichtsprofessorin der Uni Basel, beleuchten wir einige der drängendsten Herausforderungen: Wir diskutieren, warum gerade jetzt der Moment gekommen ist, eine nationale Strategie für Forschungsbibliotheken zu entwickeln – und weshalb diese weit mehr ist als ein technisches Modernisierungsprogramm. Wir sprechen darüber, wie rasant fortschreitende KI-Entwicklungen und neue Recherchewerkzeuge die Rolle der Bibliotheken verändern, welche Abhängigkeiten und welche Chancen daraus entstehen und warum ihre Vertrauensfunktion dabei eher wächst als schrumpft. Ein weiteres Thema ist der «Schweizer Informationsraum»: Was heisst es konkret, diesen weiterzuentwickeln, damit historische Bestände, digitale Ressourcen und neue Datenräume zusammenfinden? Und schliesslich fragen wir, welche Eckpunkte eine nationale Strategie überhaupt setzen müsste, damit die Bibliotheken im föderalen System handlungsfähig bleiben und ihre Bedeutung im Wissenschaftssystem langfristig sichern können.

Das Interview zeigt, warum Forschungsbibliotheken strategisch gestärkt werden müssen – und wie sie sich zu Datenhubs, Innovationsmotoren und Garanten verlässlicher Information in einer zunehmend unübersichtlichen digitalen Welt entwickeln können.

1. Weshalb stehen die Schweizer Forschungsbibliotheken gerade jetzt unter so grossem Handlungsdruck – und warum braucht es dafür eine gemeinsame nationale Antwort?

Aktuell treffen beschleunigte technologische Entwicklungen vor allem der generativen KI und geopolitische Verschiebungen, die für die Kontrolle von Datenflüssen und damit auch für den Zugang zu Informationen und dessen rechtliche Regulierung weitreichende Konsequenzen haben, in neuer Intensität zusammen. Die wissenschaftlichen Bibliotheken der Schweiz, um die es in diesem Bericht geht, stehen daher als Anbieter verlässlicher, autorisierter und damit intersubjektiv überprüfbarer Informationen vor Herausforderungen, die sie alle gemeinsam betreffen. Wie können sie zum Beispiel angesichts der Rolle von bereits längere Zeit existierenden Suchmaschinen wie Google-scholar und neueren semantischen Tools, wie den Chatbots, die von der Literaturrecherche bis zum Verfassen von Texten genutzt werden, dazu beitragen, dass verlässliche Informationen gefunden werden und sicherstellen, dass ihre Bestände und damit ihre Informationsangebote für die NutzerInnen überhaupt vollständig zugänglich bleiben Wie können die Bibliotheken ihren Institutionen, der wissenschaftlichen Community und der Wissenschaftspolitik die Bedeutung ihrer wichtigen Rolle für ein verlässliches Informationsmanagement vermitteln, wenn diese durch die neuen Technologien zunehmend unsichtbar wird, gleichzeitig aber an Relevanz und Notwendigkeit gewinnt? Wie können sie sich in die angesichts dieses rasanten Wandels dringend notwendige und durchaus komplizierte Weiterentwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Nutzung von geistigem Eigentum oder die Nutzung ihrer Datenbestände für die Weiterentwicklung von KI kantonal, national und international erfolgreich einbringen? Oder wie können sie die nach wie vor herausfordernde Frage der Langzeitarchivierung ihrer immer stärker datenförmigen Bestände angesichts des permanenten technologischen Wandels und der exponentiell wachsenden Datenmengen sicherstellen? Solche Fragen betreffen die Kernaufgaben der Bibliotheken. Von einer einzelnen Institution sind sie im Alleingang nicht mehr erfolgreich zu bearbeiten, geschweige denn zu lösen. Hier steht die föderale Struktur der Schweizer Hochschulbibliotheken vor grossen Herausforderungen. Seit der Jahrtausendwende haben die Forschungsbibliotheken bereits erfolgreich zwei grosse Schritte in der nationalen Koordination wichtiger Aufgabengebiete realisiert: Mit der Gründung des Konsortiums der Schweizer Hochschulbibliotheken Anfang der 2000er Jahren haben sie ihre Verhandlungsposition gegenüber den grossen internationalen Wissenschaftsverlagen gestärkt. Und mit dem Aufbau der Swiss Library Service Platform SLSP und Swisscovery ab 2017 haben sie eine schweizweite Katalogstruktur für Forschungsbibliotheken geschaffen. Damit sind neue Chancen, aber auch neue Probleme verbunden. Angesichts der weitreichenden, wenn nicht revolutionären Auswirkungen der generativen KI auf die Wissensproduktion, die derzeit noch kaum realistisch abzuschätzen sind, gewinnt die dynamische Entwicklung einer nationalen Strategie für die digitale Transformation der Forschungsbibliotheken eminente Bedeutung. Nur so können sie ihre Handlungs- und Innovationsfähigkeit als zentrale wissenschaftliche Infrastruktur sicherstellen und weiterentwickeln. Plakativ gesagt droht dem Wissenschaftsstandort Schweiz und seinem in den Bibliotheken vorhandenen mehr als 1000jährigen Wissensspeicher das Risiko eines unersetzlichen Wissensverlusts, wenn es nicht gelingt, die Bibliotheken innerhalb ihrer eigenen Institutionen, auf nationaler Ebene und in ihrer internationalen Zusammenarbeit strategisch zu stärken.

2. Wie verändert die rasante Entwicklung von KI und Chatbots die Rolle von Forschungsbibliotheken?

Die Digitalisierung oder besser Datifizierung sämtlicher Bibliotheksbestände und der Einsatz von KI-Technologien hat dazu geführt, dass heute viele interne Prozesse etwa in der Katalogisierung und Erstellung von Metadaten oder in der Bestandsverwaltung automatisiert sind. Die Bibliotheken werden so viel stärker zu Informationsbrokern, die von externen Daten- und Technologieanbietern abhängen. Ihre primäre Aufgabe, verlässliche Informationen zur Verfügung zu stellen, ist dank diesen Entwicklungen gleichzeitig effizienter zu bewältigen und schwieriger zu bewerkstelligen. Sie stehen im Wettbewerb mit anderen Informationsvermittlern wie Google und neu vor allem den Chatbots. Hier laufen zur Zeit am Markt die Wetten, ob es künftig die Bibliotheken als Garanten für Vertrauenswürdigkeit noch geben wird. Es klingt paradox, aber in Zeiten, in denen viele Menschen darüber nachdenken, wie wir mit maschinellen „Halluzinationen“, Desinformation und Fake News umgehen, verpassen wir es, die Institutionen adäquat zu stärken, die durch ihren Einsatz für die komplexer werdende Informationsversorgung zur Vertrauenswürdigkeit beitragen können.

3. Was bedeutet es konkret, «den Schweizer Informationsraum weiterzuentwickeln»?

Mit der Plattform «Swisscovery», die einen nationalen Bibliothekskatalog zur Verfügung stellt, hat die Idee, dass es einen einheitlichen Informationsraum Schweiz gibt, eine neue Sichtbarkeit erreicht. Diese kann in vielfältiger Form weiterentwickelt werden. Das fängt bei eher kleineren Themen an: So scheint zum Beispiel ein einheitliches System zu fehlen, um alle vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Open Access-Monographien in Swisscovery auch tatsächlich als frei zugänglich anzuzeigen. Dann gibt es Fälle, in denen analoge Praktiken noch kein digitales Pendant gefunden haben. Für analoge Medien stand beispielsweise mit dem Interlibrary Loan-System und ausgebauten Kurierdiensten, also dem, was man lange mit dem Begriff «Fernleihe» zusammengefasst hat, ein gemeinsamer Nutzungsraum zu günstigen Bedingungen zur Verfügung. Im digitalen Zeitalter besteht die technisch berechtigte Erwartung, dass die digitalen Bestände nicht mehr ortsgebunden benutzt werden müssen. Die entsprechenden, von den einzelnen Bibliotheken erworbenen Zugangsberechtigungen erschweren aber paradoxerweise den Zugang zumindest zu digitalen Büchern (E-Books) drastisch, die – auch international – von den Bibliotheken nicht ausgeliehen werden dürfen. Und dann gibt es natürlich auch die grossen Themen: Qualitätsgesicherte, interoperable Datenräume gewinnen zunehmend an Bedeutung, damit werden auch die Bestände und Sammlungen der Bibliotheken, immer wichtiger und die Bibliotheken müssen in die Lage versetzt werden, auf ganz verschiedenen Ebenen die Anschlussfähigkeit an diese Datenräume gewährleisten zu können. Hier werden neue Lösungen sowohl mit Blick auf technische Standards und Schnittstellen wie auch mit Blick auf die Weiterentwicklung von Modellen für Zugangsberechtigungen auf nationaler Ebene an Bedeutung gewinnen. Zudem steigen die Ansprüche an eine quantitativ wie qualitativ ausgezeichnete Informationsversorgung zusammen mit der Sicherung des Datenzugangs und der Datensouveränität im internationalen Wettbewerb laufend. Und nicht zuletzt sind die Bibliotheken als Gedächtnisinstitutionen mit der grossen Herausforderung konfrontiert, für künftige Forschende den Zugang zu Daten mit historischer Tiefe und für künftige Generationen in der Schweiz den Zugang zu den intellektuellen und kulturellen Zeugnissen unserer Zeit sicherzustellen.

4. Wozu dient eine nationale Strategie konkret – und welche Strukturen, Prioritäten und Instrumente braucht sie, um wirksam zu sein?

Die zunehmende Konzentration und das Tempo der technologischen Entwicklungen macht, wie gesagt, die Formulierung und permanente Weiterentwicklung einer nationalen Strategie der Forschungsbibliotheken für den Informationsraum Schweiz unverzichtbar. Denn die einzelnen Bibliotheken können selbst dort, wo ihre Institutionen untereinander im Wettbewerb stehen, der Vielzahl an Herausforderungen und ihren Grössendimensionen nicht mehr unkoordiniert begegnen. Mit gebündelten Kompetenzen sind sie dagegen in der Lage gezielte Pilotprojekte z.B. zum Umgang mit generativer KI oder neuen Modellen zur Organisation spezifischer Nutzergruppen durchzuführen, ihre Rollen innerhalb der eigenen Institution zu stärken oder neue Formen der Organisation, Kooperation und Finanzierung auf nationaler Ebene zu finden, die den unterschiedlichen Bedürfnissen einzelner Bibliotheken und Bibliotheksgruppen (etwa jenen mit und ohne Sammlungen) Rechnung tragen können. Denkbar wären etwa Plattformen zur Erarbeitung und Anwendung neuer Lösungsansätze und zur Evaluierung neuer Tools. Schon lange bestehen im europäischen Raum und international Initiativen zum Austausch und zur Standardisierung von Formaten und Metadaten. Aktuell entstehen zum Thema der Bibliotheken als wissenschaftliche Infrastrukturen und Data Hubs neue Diskussionen und Initiativen. Die Vernetzung und Zusammenarbeit mit diesen internationalen Initiativen wird für die Schweizer Bibliothekslandschaft immer wichtiger. Auch dazu braucht es eine nationale Strategie, finanzielle Mittel und eine handlungsfähige Organisation. Mit dem Swiss Library Network for Education and Research (SLiNER) gibt es bereits ein Netzwerk von Hochschulbibliotheken, das aus Sicht des Schweizerischen Wissenschaftsrates gestärkt werden soll. Im Zeitalter von Daten als neuen Rohstoffen, KI und Diskussionen zur Datensouveränität sind die Bibliotheken ein wesentlicher Akteur zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsplatzes Schweiz. Wir hoffen, dass unser Bericht diesen wichtigen Akteuren zusätzliche Aufmerksamkeit und Gewicht verschafft, um sich auf nationaler Ebene im ERI-System strategisch erfolgreich zu positionieren. Die konkrete Ausgestaltung einer solchen Strategie und die dazu nötigen organisatorischen Formen und finanziellen Mittel können nur die Bibliotheken selbst formulieren.

Forschungsbibliotheken als «Data Hubs» – Neuer Bericht des Schweizerischen Wissenschaftsrats SWR

Susanna Burghatz
Die Historikerin Susanna Burghartz ist emeritierte Professorin für Geschichte der Renaissance und der Frühen Neuzeit der Universität Basel sowie Mitglied des Schweizerischen Wissenschaftsrates.